Schon vor zwei Jahren ist „Radio Nacht“ erschienen, daher ist bei diesem Buch, so aktuell es erscheint, nicht in erster Linie an die aktuelle Situation in der Ukraine zu denken.
Irgendwo auf dem Nullmeridian sitzt Josip Rotsky und sendet seine „Radio Nacht“. Ein Nachtprogramm für alle die schlaflos sind. Seine Radiosendung ist geprägt von trauriger Musik und den Geschichten aus seinem Leben. Unter anderem von jener Geschichte in der er der Mörder des vorletzten Diktators Europas ist. Dazu wurde er, indem er diesen mit einem Hühnerei bewarf, dieser erschrak und dann starb. Die Beispielgeschichte zeigt: Rotsky ist ein Vagabund, ein Schelm und damit Mittelpunkt eines – ich nenne das jetzt mal so – Schelmen- oder Vagabundenromans. Bei diesem Erzählstrang bleibt es aber nicht. Es gibt einen weiteren Strang der Erzählung, in der ein Autor Rotsky zum Mittelpunkt einer Biografie machen will – was nicht ganz so leicht ist.
Wunderbar ist auch der Name des Protagonisten: Josip Rotsky! Erinnert er doch an einen literarischen Kosmos zwischen Joseph Roth und Joseph Brodksy. Und ganz in diesem Sinne lebt der Roman von politischen, historischen und literarischen Anspielungen. Irgendwie ganz und gar die Welt auf dem Gebiet des ehemaligen kuk-Europas. Der Roman ist damit einem Schmelztiegel gleich, wie die Heimat des Autors.
Und wunderbar ist dieser ganze Roman, denn er lädt dazu ein, immer und immer weiterzulesen, mal fast atemlos, mal fast gezwungen, einem jener Radiozuhörenden gleich, die übermüdet durch die Nacht schleichen und um Radio eine Hoffnung und Trost suchen … aber immer voller genährter Neugierde. Das ist gerade deshalb so wunderbar und außerordentlich, weil es sich hier um einen Roman handelt, der so intensiv auf eine aktuelle Wirklichkeit hinweist, gerade obwohl das Wort Ukraine nicht zu finden ist und trotzdem unterhaltsam, ironisch, tiefsinnig und einfach gelungen ist.
Andruchowytsch, Juri; Radio Nacht. Verlag Suhrkamp. 2022. 26,00 €