Ein Text nach der Lektüre zum Buch: „Nicht mehr ich. Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau“, von Doris Wagner. Erschienen im Verlag Edition a, 2014. Taschenbuch bei Droemer &Knaur.
Zwischenzeitlich melden sich die Bischöfe so nach und nach mit Stellungnahmen zur Missbrauchsstudie. Mal mehr oder weniger gelungen, aber meistens in der Situation, dass sie die Studie nicht kennen. Aber anderseits mal ehrlich. Wer sich mit dem Missbrauch beschäftigt hat, der hat nichts anderes als diese Zahlen erwartet. Und so zeigt es sich auch, dass es außer innerhalb von kirchlichen Kreisen sich kaum jemand noch aufregt. Die Kirche hat nicht erst mit diesen Zahlen ihr Ansehen verloren, sondern hat spätestens seit 2010 durch ihre Art und Weise der Aufarbeitung alles daran getan, dass die Öffentlichkeit über neue Fakten nicht mehr überrascht ist. Das wird auch im Einzelnen so sein, wenn sich doch noch einige Bischöfe darauf einlassen und ehrliche Zahlen ihres Bistums nennen.
Schlussendlich ist der Zug abgefahren. Der Schaden, den einige meinten abwenden zu können, der wurde nie wirklich abgewendet, vielmehr hat er sich zu einem riesigen Dreckhaufen aufgetürmt, den man für lange Zeit, trotz lieber Worte und manch einer Vergebungsbitte riechen wird. Dieser Dreckhaufen wird sich erst verändern, wenn wir uns innerhalb der Kirche den Tatsachen stellen. Das ist einmal die ganze Zeit geforderte Übernahme von Verantwortung. Die Täter und die Vertuscher haben Verantwortung zu übernehmen, persönlich, grundsätzlich. Die nachfolgenden Bischöfe, Personalchefs etc. müssen spätestens jetzt auch mit der Rücksicht aufhören und klar benennen, wie wo und was! Schuldige müssen als Schuldige benannt werden. Das interessiert zwar die Öffentlichkeit nicht mehr, aber es ist eine Chance zuallererst einen Heilungsprozess bei den Opfern anzustoßen. Und um die Opfer muss es auch weiterhin zuerst gehen. Auch wenn man dieses Leid nicht mit Geld aufrechnen kann, das was bisher gezahlt wurde ist eine weitere dauerhafte Beleidigung. Es muss auch in der finanziellen Unterstützung sichtbar werden, dass hier etwas geschieht. Ein nennen der Namen, Strafe die Erfolgt kann dann auch zu einem Heilungsprozess für die Kirche werden.
Um aber innerhalb der Kirche – und bitte nicht nur im Klerus – Veränderungen angehen zu können, braucht es noch vor den Struktur-Diskussionen, eine seriöse (Wissens)-Grundlage, damit sich was verändert. So leidvoll es sein mag, aber an den Opfern und ihren Geschichten können wir lernen. Wir müssen erfahren was geschehen ist, wir müssen es erfahren und als Wirklichkeit annehmen. Erst dann können wir uns daran machen, das zu ändern, was zu der Situation geführt hat, dass Missbrauchstäter innerhalb des Systems geschützt sind, dass Missbrauch überhaupt geschehen kann. Wir müssen daher dankbar sein, wenn die Opfer mit uns reden, wenn sie ihre Erfahrungen und ihr Leid aufschreiben.
Wissen was war, das geht, wenn wir zum Beispiel die Biographie von Doris Wagner zur Hand nehmen. Sie beschreibt in einer sehr reflektierten in einer sehr – mir fällt kein anderes Wort ein – seriösen Art das was ihr geschehen ist, in den Jahren in der Gemeinschaft, auf. Beim Lesen des Buches entdeckt man scheinbar recht normale Ausbildungsprozesse. Das Leben einer Ordensschwester ist das Einüben von Regeln, das sich einbinden in Struktur, das sich ganz einfügen in Gemeinschaft. Das war vor Jahrhunderten so und ist noch immer so der Fall. Frau Wagner berichtet sehr genau davon und zeigt daran aber auch die einzelnen kleinen Grenzüberschreitungen, die im System der Gemeinschaft vorhanden sind. Vor der Tatsache, dass sich die junge Schwester vor einem sexuellen Missbrauch nicht mehr wehren kann gab es unendlich viele kleine Grenzüberschreitungen, die zeigen wie menschenverachtend die Ausbildung war. Grenzüberschreitungen, die die Persönlichkeit von ihr beleidigt und negiert haben. Nicht die Ausbildung und die Ideale von Ordensgemeinschaften stehen hier vor einem Pranger, sondern die Grenzüberschreitungen, die sich aus einer sehr menschenverachtenden Theologie heraus ergeben. Mit der Auflistung der Ereignisse und der Situationen zeigt sich, dass es bei einer Präventionsarbeit, die sich alleine auf sexuelle und physische Gewalt ausrichtet absolut nicht bleiben kann und darf. Eventuell kann die Geschichte von Frau Wagner uns bewusst machen, dass einem sexuellen Missbrauch ganz oft auch schon psychische Grenzverletzungen vorausgehen. Grenzverletzungen, psychische und physische sind zu verhindern, sowohl vor sexuellen Straftaten, wie auch danach durch Gesprächspartner, durch SeelsorgerInnen und anderen Personen.
Die Missbrauchsstudie und viele Meldungen in den letzten Jahren waren schmerzhaft, sie haben schockiert, aber sie waren doch irgendwie immer wieder fern vom Alltag. Hart wurde es für jene, die die Themen, das Leid im nächsten Umfeld erfahren mussten. Und auch dieses Buch war für mich im ersten Moment ein Beitrag wie „jeder andere“. Von einer Freundin empfohlen habe ich das Buch mir in der Bibliothek bestellt, bin über das Autorenbild fast regungslos hinweggegangen und habe mich an den Text gemacht. Aber irgendwann stockte ich. Das Bild wirkte nach. Warum? Weil ich die Frau erkannte. Am Ende wusste ich es: Sie saß in Seminaren und Vorlesungen neben mir und ich habe sie auch an anderen Orten gesehen. Und die Protagonisten, der Täter und die Mittäter? Frau Wagner war so freundlich die Gemeinschaft nicht direkt beim Namen zu nennen und auch die Personen mit anderen Namen zu versehen. Ort, Umfeld, Viten und Zeitgeschichte führten mich aber zu Menschen, die ich kenne, mit denen ich schon gesprochen, diskutiert ja auch schon auf Empfängen war. Und plötzlich wird Missbrauch keine abstrakte Größe mehr. Diese Erfahrung brauchen wir um Veränderungen anzugehen. Missbrauch darf nicht ein abstraktes Thema bzw, ein Thema für Verwaltung, Juristen und Co. bleiben.
Ich bin Frau Wagner ungemein dankbar für dieses Buch, das sie geschrieben hat. Ich habe Respekt vor ihrem Weg, ihrer Art der Aufarbeitung. Als Teil der einen Kirche habe ich Mitschuld am Leid und sehe mich, sehe uns alle in der Verpflichtung, dass sich grundsätzlich etwas verändert. Ich wünsche Frau Wagner für ihr Leben alles Gute, Lebensfreude und Heilung der Wunden. Ich wünsche ihr, dass sie ein Leben nach dem Missbrauch leben kann und dass die Nachstellungen, die Verleumdungen und all das Böse was auch noch in den Jahren danach über sie kommt und gekommen ist, durch Kirche, durch Vertreter der Kirche und der Gemeinschaft endlich endet. Ich schäme mich der Taten und ich hoffe, dass sich die Kirche, dass sich die einzelnen MittäterInnen, die auch jetzt noch Grenzüberschreitungen vornehmen ihre Sünde erkennen und endlich einen neuen Weg gehen. Kirche muss handeln im Sinne und zum Wohl der Opfer, nicht zu einem vermeintlichen Wohl der Kirche (welch verrückte Theologie) oder zum Schutz der Täter.