Mir kamen ein paar Gedanken zum Thema „Gedächtnis“:
Für viele ist „Tradition“ ein Unwort. Manchem stellen sich die Nackenhaare auf und trotzdem ist es wichtig. Ein Aspekt dieser „Tradition“, gerade der kirchlichen Tradition, ist ein grundsätzliches sich erinnern. Ein Gedächtnis!
Ich merke immer wieder wie wichtig es ist, dass wir nicht vergessen! Wer Mensch sein will, Mensch als ganzes Sein, der braucht ein „Woher“, ein Erinnern, braucht spürbare Wurzeln. Das Erfahren wir auch in unserer Umwelt. Gerade das Deutschland der Bonner Republik hat sich genau damit auseinandersetzten müssen. Es ging darum eine Form zu finden, wie Deutschland sich an die Geschichte, an all das Leid der Nazizeit aber auch an all die positiven Aspekte der deutschen Geschichte erinnert, ohne blinde Flecke und mit Bewusstsein. Warum? Um eine Zukunft zu gestalten muss ich mich mit der Geschichte, mit meinem und dem gesellschaftlichen „Woher“ auseinandersetzten. Das ist eine Binsenweisheit und doch – gerade heute auch in der Politik – entscheidend wichtig. Deutschland wurde erfolgreich und angesehen in der Welt und ist es heute noch, weil wir auch zu unserer Geschichte stehen.
Ein „Gedächtnis pflegen“ gilt es mit Blick auf das Zwischenmenschliche! Im Alltag, gerade auch in unseren Gemeinden ist es zentral. Seelsorge ist (auch, wenn nicht gar entscheidend) Gedächtnis pflegen. Wenn ich dem Anderen Ruhe, Heimat bieten, Heimat sein will, dann braucht es einen Raum der Kontinuität. Das fängt ganz schlicht damit an, dass ich mich an das Erinnere was er mir erzählt, dass Gemeinschaft Raum ist, in dem jeder einzelne nicht irgendeine Nummer ist, sondern ein Gegenüber – ein Du – der eine Geschichte hat.
Das sind doch Grundlagen, die jeder von uns selbst verifizieren kann. Wo fühle ich mich, wo fühlen wir uns wohl? In einem Umfeld, in dem jeder sein darf wer er ist. Wo die eigene Gegenwart, die eigene Geschichte, die eigene Heimat mit dabei sein darf. Deshalb ist Familie wichtig als Ort der Verortung, aber deshalb braucht es auch Freunde, Gemeinschaften, sichere Gruppen, die verorten, die mich als Ganzes nehmen, damit ich in anderen Momenten, davon zehren kann, erinnernd vorwärts gehen kann und mich entwickeln kann. Diese Räume braucht es als Gemeinde, diese Erfahrungen dürfen in Kirche zu Glaubenserfahrungen werden.
Erinnerung ist im Christentum ein entscheidender Moment: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“. Eucharistie ist Quelle und Höhepunkt. Eucharistie ist Erinnern und ein Leben, ein sich entwickeln aus dieser Erinnerung. Eucharistie, als zeitloser fließender Erinnerungsort schafft Verortung und Zukunft.
Gott verspricht uns sein Erinnern. Der Gott des Alten Testaments ist ein Gott der in der Geschichte erlebbar ist und somit den einzelnen, das Volk einbettet in ein Gestern heute und Morgen. Ein Gott der mit den Menschen geht ist ein Gott der Erinnert den Menschen an die Wurzel (Bund, Versprechen, Befreiung), er verspricht aber auch die Erinnerung. Die Psalmen erzählen immer wieder davon, dass Gott nicht vergisst, dass er die Versprechen einhält, dass er seinen Bund und damit eben auch die Geschichte nicht wegwischt. Ein Gott der die Geschichte (Vergangenheit) zerstören würde, würde schlussendlich auch den Menschen vernichten. Das will Gott nicht, deshalb ist doch gerade die Menschwerdung per se schon ein Erinnerungsprozess. Gott stellt sich neu in Beziehung zu den Menschen – als Mensch – und vergisst nicht seine Schöpfung. Zwischen Auferstehung und Himmelfahrt werden die Worte Jesu nochmal drängender: Vergesst nicht, denn auch der Vater im Himmel wird nicht vergessen – ich vergesse euch nicht! Christ sein ist ein einbettet in ein Gedächtnis. Gedächtnis, denken, erinnern ist ein Funke Gottes im Menschen!
Geht es in Kirche nicht darum, dass etwas weitergeführt wird? Kirche braucht Kontinuität (nicht enges festhalten) in dem was vor Ort geschieht. Kein verzetteln, kein dauerhaftes umwerfen von Plänen, Terminen, Gewohnheiten, kein neuer Plan bei jedem neuen Pfarrer oder Hauptamtlichen. Es braucht Anerkennung dessen, was und damit was wächst. Es braucht die Zeit des Wachsens es das geht nicht ohne Gedächtnis. In all dem Aktionismus, den es in Kirche gibt – das gleiche kann jeder von uns an Beispielen auch in Gesellschaft festmachen – vergessen die Akteure eine wohltuende Ruhe, die Veränderung in menschlichen Zügen angeht.
Ein „Gedächtnis pflegen“ widerspricht nicht Veränderungen. Was veraltet und fremd ist, das muss überdacht und gegebenenfalls erneuert werden. Aber auch da braucht es die Reflexion, die Erinnerung an den Sinn, die Idee. Erneuern ist doch nicht zerstören, sondern Zukunft, weitergehen auf einem Weg.